EU-Industriepolitik setzt auf mehr Unabhängigkeit und grüne Geschäftsmodelle
Die Vertretung Hessens bei der EU führte in der Reihe der Hessen Live-Stream Veranstaltungen „One Click to Europe“ am 19. Juli ein Gespräch zur neuen EU-Industriestrategie unter dem Titel „Innovativ, intelligent und international“ durch. Gesprächspartnerin war die Generaldirektorin der Europäischen Kommission für Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU, Kerstin Jorna.
Kerstin Jorna begann ihre Einführung mit einigen Worten zu den Flutkatastrophen in Deutschland und Belgien. Sie sprach den Opfern ihre Teilnahme aus und versicherte, dass die EU und die Mitgliedstaaten solidarisch seien und sich gegenseitig unterstützten.
Kerstin Jorna, Generaldirektorin für Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU,
Quelle: Europäische Kommission
Die Industriestrategie erläuterte sie auf Nachfrage der Moderatorin Silke Wettach, EU-Korrespondentin der Wirtschaftswoche, auf der Grundlage der drei Themenfelder Covid-19-Pandemie, Binnenmarkt und grünes Wirtschaftsmodell. Mit Blick auf die Pandemie erinnerte sie an die negativen Auswirkungen für das wirtschaftliche Wachstum. Hessen sei mit einem Minus von 5,6 % schwerer getroffen gewesen als der Durchschnitt der EU und Deutschlands, sagte sie. Gleichzeitig bezeichnete sie Hessen als das Herz der Impfstoffproduktion. Wichtig für die Industriestrategie ist ihrer Auffassung nach, Lehren aus der Pandemie für die Industrie- und Wirtschaftspolitik zu ziehen. Sie wies auf die essentiellen Güter hin, an denen es zu Beginn gefehlt habe und auf die positiven Effekte eines gemeinschaftlichen Einkaufs und gemeinsamer Investitionen der EU in die Impfstoffentwicklung. Sie nannte die bekannten Erkenntnisse aus der Pandemie, wie die Notwendigkeit, eine größere Unabhängigkeit von Drittstaaten aufzubauen und die Erfahrung, Güter und Dienstleistungen für Krisenzeiten europäisch abzusichern. Bei der Impfstoffentwicklung sei es gelungen, Investoren, Forschung, Produzenten und die öffentlichen Stellen als Käufer zusammen zu bringen. Die hier gemachten positiven Erfahrungen können ihrer Auffassung als Vorbild für weitere Maßnahmen zur Stärkung der europäischen Wirtschaftsautonomie dienen.
Um den Binnenmarkt bei zukünftigen Problemen zu erhalten, hält sie ein Krisenprotokoll für notwendig. Mit einem solchen Protokoll soll gewährleisten werden, dass die notwendigen Güter und Leistungen gemeinschaftsweit allen zur Verfügung stehen. Außerdem will sie die bestehende Binnenmarkt-Taskforce nutzen, mit den Mitgliedstaaten eine Bestandsaufnahme zu hinderlichen nationalen Regeln und Verfahren für Unternehmen zu machen. Hinderlich nicht nur für das Handeln in Pandemiezeiten, sondern auch für einen EU-weiten Wirtschaftsaufschwung im Green-Deal und der Digitalisierung. Sie nannte dazu Beispiele, wie die reglementierten Berufe, wo in energetischem Sanieren und Bauen kompetente Architekt*innen Auflagen erfüllen müssten, wenn sie in einem anderen EU-Land arbeiten wollen, oder komplexe und langwierige Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien. Beides hält sie für kontraproduktiv und strebt Lösungen mit den EU-Ländern an.
Generaldirektorin Jorna berichtete, dass die EU an fünf Grundlagen für die Förderung einer umwelt- und klimafreundlichen Wirtschaft arbeite, wozu rechtliche Rahmenbedingungen, Finanzierung, Grund- bzw. Rohstoffe, Energie und Kompetenzen gehören. Sie wies auf die Gesetzesvorschläge für digitale Dienste und Märkte und für die gerade vorgelegten Regulierungen des „Fit für 55“-Pakets für den Klimaschutz hin.
Beim Thema Grundstoffe zeigte sie sich optimistisch. Für sie ist es wichtig, jetzt umzusteuern, um unabhängiger von Drittstaaten, wie China zu werden. Sie berichtet von vielfältigen Initiativen, die in der EU umgesetzt werden, durch die unter anderem die Forschung, Entwicklung und Produktion von Batterien, Magneten und weiteren Stoffen für Mikroprozeduren hochgefahren werden. Batterien, sagte sie, sei ein gutes Beispiel. Europa habe damit erst vor ein paar Jahren begonnen und heute sei vorstellbar, dass Batterien für Elektroautos und mehr in Europa hergestellt und auch in Drittländer exportiert werden. Gleiches sagte sie für den Wasserstoff. Mehr als 1.000 Unternehmen hätten sich in Europa zusammengefunden, um eine Wasserstoffkette und einen Wasserstoffmarkt in Europa aufzubauen. Nach vorne schauen und strategisch vernetzen, das ist ihrer Ansicht ein Mehrwert, den die EU-Kommission mit ihrer Arbeit bringen kann.
Strategische Partnerschaften mit gleichgesinnten Ländern bei der Rohstoffentwicklung sind für sie weitere Möglichkeiten, sich von der Abhängigkeit bestimmter Drittstaaten zu befreien. Sie kann sich solche Rohstoffkooperationen mit Nationen, wie Australien, Japan, USA und Kanada vorstellen.
Silke Wettach fragte nach ihrer Antwort auf die Besorgnis der Wirtschaft in Deutschland, dass einige der neuen Rechtsetzungsvorschläge für den Klimaschutz die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in Europa schwächen könnten. Kerstin Jorna forderte unter anderem dazu auf, nicht zu defensiv zu sein. Man müsse sich in den Aufschwung hineininvestieren, waren ihre Worte. Es gäbe hervorragende Technologien und Unternehmen in der EU und in den Bereichen Wasserstofftechnologien, Sonnenpanelen und Batterietechnologien gehe in Europa der grüne Zug ab, sagte sie, und glaubt, dass diese die Exporte der Zukunft werden.
Die Veranstaltung wurde aufgenommen, das Video steht hier zur Verfügung.