Individuelles und gesellschaftliches Wohlergehen zum Kernziel von Wirtschaftswachstum erheben

In seiner Oktobersitzung befasste sich der Rat der EU für Beschäftigung, Soziales und Gesundheit mit der „Ökonomie des Wohlergehens“, die ein stärkeres Gleichgewicht zwischen Wirtschaftswachstum und sozialer Teilhabe zum Inhalt hat.

Der aktuelle EU-Vorsitz, die finnische Regierung, brachte das politische Konzept als eines seiner Schwerpunkte ein. Ein guter Zeitpunkt, da gerade sowohl über eine neue Wachstumsstrategie, eine neue Industriepolitik als auch über die längerfristige Haushaltsplanung diskutiert und verhandelt wird. Die „Ökonomie des Wohlergehens“ ist ein ordnungspolitisches Konzept, dass die Menschen und ihr Wohlergehen in den Mittelpunkt von Politik und Entscheidungsfindung stellt. Wohlergehen und Wirtschaftswachstum sollen sich also gegenseitig stärken. Es wird davon ausgegangen, dass sowohl individuelles als auch gesellschaftliches Wohlergehen positive Effekte für Wachstum, Produktivität, die langfristige Tragfähigkeit öffentlicher Finanzen und die gesellschaftliche Stabilität hat. Das Wohlergehen muss also ein politikfeldübergreifendes Ziel sein, hängt aber auch von einem inklusiven Sozialschutz, einer verbesserten Gendergleichheit und Gesundheitsversorgung und von gerechten Chancen in Bildung und Ausbildung ab. Der finnische Vorsitz stellte Beispiele vor. Eine verbesserte Gesundheitsversorgung könnte die Zahl der durch nicht-übertragbare Krankheiten sterbenden Menschen reduzieren. Wirtschaftlich gesehen würden 500.000 Todesfälle einen Verlust von 115 Mrd. € jährlich bedeuten. Eine reale Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern könnte perspektivisch zu einem Bruttoinlandsproduktwachstum von 9.6% beitragen. Und eine insgesamt wohlgehende Bevölkerung könnte natürlich auch die Kosten von Gesundheitsversorgung und sozialen Leistungen eindämmen.

In ihren Schlussfolgerungen zur Ökonomie des Wohlergehens begründen die Arbeits- und Sozialministern*innen ihre politische Positionierung. Den Menschen in der EU gehe es im Durchschnitt gut, aber weiterhin seien Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht und zahlreichen Herausforderungen ausgesetzt. Die Europäische Säule sozialer Rechte spiele eine zentrale Rolle, da diese die Richtung für eine erneute Aufwärtskonvergenz hin zu besseren Arbeits- und Lebensbedingungen in der Union vorgebe.

Eine Ökonomie des Wohlergehens bedeutet aus gesundheitspolitischer Sicht sicher zu stellen, dass alle Menschen Zugang zur Gesundheitsversorgung, Langzeitpflege, Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention haben. Im Text der Schlussfolgerungen werden Schwerpunkte für Investitionen genannt. „Eine hohe Impfdichte ist eine kosteneffiziente Maßnahme, um vielen übertragbaren Krankheiten vorzubeugen. Größere Anstrengungen zur Förderung einer guten psychischen Gesundheit und zur Verbesserung von Vorsorge, Frühdiagnose und Behandlung sowie ein stärkerer Abbau von Vorurteilen gegenüber psychischen Störungen würden das Leben von Millionen Europäerinnen und Europäern im Laufe ihres Lebens verbessern und zu einem diskriminierungsfreien Arbeitsumfeld, zu besseren Arbeitsbedingungen und letztendlich zu einer robusteren Wirtschaft beitragen“. Um den steigenden Kosten von Gesundheitsausgaben entgegen zu wirken, sollte an den sozialen, kommerziellen, wirtschaftlichen und ökologischen Gesundheitsfaktoren angesetzt werden.

In den solchen Schlussfolgerungen üblichen Handlungsempfehlungen fordert der Rat die in den Mitgliedstaaten und auf der europäischen Ebene Verantwortlichen auf, den Aspekt der Ökonomie des Wohlergehens als horizontale Komponente aufzunehmen. Dafür wird eine bereichsübergreifende Bewertung der Auswirkungen von Politik und Entscheidungen auf das Wohlergehen angeregt, möglicherweise auch die Entwicklung von Indikatoren für eine wissensbasierte Politik, z.B. als Grundlage für nationale Haushaltsverhandlungen.

An die Europäische Kommission richtet sich speziell die Erwartung, die Aspekte Nachhaltigkeit und Verfügbarkeit von Gesundheitsdienstleistungen, einschließlich des Zugangs zu Arzneimitteln und Medizinprodukten sowie das Thema psychische Gesundheit in der europäischen Zusammenarbeit zu stärken. Darüber hinaus fordert der Arbeits- und Sozialministerrat die EU-Verwaltung auf, das Konzept einer „economy of wellbeing“ in den für 2020 angekündigten Vorschlag für die nächste längerfristige Wachstumsstrategie der EU zu berücksichtigen.

 

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Ulrike Wisser